„Ihr seid mir alle gleich viel wert“ oder wer bestimmt eigentlich, wer schlechter oder wertvoller ist?
„Das ist doch unglaublich!“, schimpft eine Bekannte, die ich beim Einkaufen treffe. Sie bezieht sich auf die Wahlergebnisse im letzten Monat und zunächst denke ich noch, dass sie sich entsetzt über den Wahlerfolg der AfD zeigt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird mir allerdings klar, dass sie sich über die allgemeine und vor allem aktuelle Politik der Bundesregierung aufregt und das Wahlergebnis zwar nicht besonders schön, aber durchaus nachvollziehbar findet. Geschehe ihnen Recht, dass sie für ihre lausige Arbeit einen Denkzettel bekämen.
Das mit dem Denkzettel finde ich persönlich nachvollziehbar, wenn auch nicht besonders aussichtsreich. Darüber kann man denken, was man will, aber das ist auch nicht das, was mich nachhaltig beschäftigt. Im weiteren Gespräch zeichnet sie nämlich ein ziemlich düsteres Bild für die Zukunft unserer Gesellschaft: Alles würde teurer und wer müsse permanent draufzahlen? Ausdrücke wie „Schmarotzer“, „Verbrecher“, „Messerstecher“, „asoziales Pack“, „Gefahr für uns alle“ schrecken mich auf. So viel Aggression in ihren Worten und die Schuldigen (in diesem Falle die Geflüchteten aus aller Herren Länder) fest im Blick, machen mich nachdenklich.
Ich bin entsetzt über die ausgesprochenen Pauschalurteile und sie ist längst noch nicht fertig mit ihrer „Rede“:
Da wird ein Mann, der mit seinen zehn Kindern (hat er sie wirklich oder ist das eine, ihren Frust rechtfertigende Übertreibung?) in einer von der Gemeinde im Umland bereitgestellten Wohnung lebt, zu einem Verbrecher („Der sieht doch schon so aus“!) und die Kinder zu schlecht erzogenen Gören, die uns auch zukünftig auf der Tasche liegen werden. „Haben es ja auch nicht anders von ihrem Schmarotzer-Vater gelernt!“
Da wird die junge Frau, die ihr Kopftuch mit Stolz zu tragen scheint, sofort zu einer potentiellen Gefahr, der junge Mann mit dunklen Augen und schwarzem, langem Bart zu einem potentiellen Attentäter. Da schienen ihr diejenigen noch relativ erträglich, die eh nur nach Deutschland kämen, um uns auszunehmen wie eine Weihnachtsgans…
Ich schlucke und setze an, dass mein Mann gerade im Krankenhaus war und sowohl der äußerst kompetente Arzt als auch die Krankenschwester ganz sicher nicht hier in Deutschland geboren sind. Aber ich komme gar nicht dazwischen, denn sie zetert weiter:
Die jungen Leute von heute seien doch alle Handy-abhängige Nichtstuern, die nur ihr Vergnügen im Kopf haben und keine Verantwortung übernehmen wollen, und die übergewichtige Frau zu einer disziplinlosen Zumutung für unsere Augen und die Krankenkassen.
Ich versuche es mit einem: „Na ja, so pauschal kann man das ja nun auch nicht sagen“, und denke dabei daran, dass ich nach offiziellen Vorgaben auch eher zu den letzteren gezählt würde. Ohne Erfolg. Sie schimpft noch über zu hohe Hundesteuer und zu teure Benzinpreise, als ihr Mann sie mit einem bulligen SUV abholt. Und schon ertappe ich mich dabei, mein Urteil über die Besitzer dieses riesigen und protzigen Autos zu fällen …
Und ich frage mich automatisch: „Haben wir dieses Schubladendenken nicht alle inhaliert? Wo hat es seinen Ursprung?
„Als wir noch in Höhlen lebten“, war es (überlebens-)wichtig, Situationen, Menschen und Tiere einzuordnen in gefährlich und ungefährlich, in essbar und ungenießbar bzw. giftig. Irrtümer konnten tödlich sein und einen solchen Einschätzungsfehler machte man oft nur ein einziges Mal.
Von den Vorfahren wurden die entsprechenden Erfahrungen an die nächste Generation weitergegeben und sicherten den Erfolg des Clans, der Familie.
Aus den Höhlenmenschen wurden zivilisierte Gesellschaften – und die sogenannten Fehlentscheidungen waren vielleicht nicht mehr tödlich, sorgten aber schnell zum Ausschluss aus der Gemeinschaft. Das war zu allen Zeiten bedenklich und nicht besonders angenehm.
Ich habe das in der Corona-Pandemie erleben müssen, als ich mich gegen eine Impfung entschied. „Aluhut-Trägerin“, „Querdenkerin“, „Corona-Leugnerin“… waren die gängigen und noch harmlosen Beschimpfungen, die mir tagtäglich um die Ohren gepfeffert wurden. Ich war Ausgestoßene, potentiell gefährlich – und niemand hat mich gefragt, warum ich mich so entschieden habe. Das Urteil war gesprochen, der Stempel auf die Stirn gedrückt.
Corona scheint inzwischen kein Thema mehr, denn, auch das ist wohl typisch für unsere Zeit, die Themen / Aufreger wechseln schnell und neue Anforderungen (Energiewende, Kriege in nah und fern) erfordern eine erneute Positionierung. Politisch wie gesellschaftlich wird oft wieder in schwarz und weiß eingeteilt und irgendjemand bestimmt, welche Seite die vermeintlich Richtige ist.
Atempause 😉
Was hat das alles eigentlich mit dem Bild und der Überschrift zu tun?
Matthäus 20, 1-16 (Lutherbibel 2017): „Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter anzuwerben für seinen Weinberg. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“
Die Auslegung dieser Bibelstelle ist sicher nicht ganz einfach.
Um was geht es?
Um den erbrachten Arbeitseinsatz im Weinberg, der scheinbar ungerecht entlohnt wird?
Oder darum, getroffene Vereinbarungen, also die ausgehandelte Bezahlung für die erbrachte Arbeitsleistung, einzuhalten?
Oder darum, dass der Besitzer des Weinbergs machen kann was er will – frei nach dem Motto „Wer die Musik bezahlt, bestimmt, welche Lieder gespielt werden“?
Ich denke, es geht um etwas ganz anderes: Jesus bezieht sich in diesem Gleichnis auf die Frage, wer denn die „besseren Gläubigen“ seien. Ihm geht es um die Frage, ob es dieses „besser“ überhaupt gibt, aber auch darum, wer denn zu bestimmen hat, wie diese Wertigkeit zustande kommt. Wer legt denn die Kriterien fest? Und es geht, so scheint es mir, auch darum, dass diese Beurteilungen erstens mit nichts gerechtfertigt werden können und zweitens nicht weiterführen. Sie trennen, spalten, schüren Hass und Unfrieden. Das war schon zu Jesu Zeiten so .
Und gerade auf unsere heutigen Zeiten bezogen darf ich mich einmal mehr fragen:
Wer bestimmt eigentlich meine Werturteile und stimmen sie tatsächlich?
Gibt es nur schwarz oder weiß?
Wer beeinflusst womit meine Meinungsbildung?
Und kann ich mich darauf einlassen, dass es Entscheidungen gibt, die dieselbe Berechtigung haben wie meine eigene?
Ich lade dich ein, diesen Fragen einmal nachzuspüren und für dich zu beantworten.
Ein gesegnetes Wochenende in Gottes Weinberg wünsche ich uns allen!
Herzensgrüße
Imke
Text und Bild: © Imke Rosiejka / www.imke-rosiejka.de/ 2024